BI Driftsethe

Bürger-Initiative gegen die Bauschuttdeponie in Driftsethe

Schweizer Giftmüll

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In einer Tongrube haben die Schweizer eine halbe Million Tonnen Sondermüll angehäuft. Jetzt tragen sie den giftigen Dreck wieder ab.

Kölliken im Kanton Aargau kennen die Eidgenossen nur als „das Dorf mit der Deponie“. Die Autobahn 1 von Bern nach Zürich streift die 4.000 Einwohner zählende Gemeinde. Zu beiden Seiten der Schnellstraße steigt das Schweizer Mittelland an. In Kölliken gibt es ein paar Geschäfte, eine Schreinerei, eine Kirche und einen Reiterhof. Drei alte Bauernhäuser sind mit Dächern aus Stroh gedeckt. Kölliken war einmal bekannt für seine Strohdächer.

Die Baggerfahrer arbeiten hinter Panzerglas. Es besteht Explosionsgefahr.  Foto: Michael Billig

Die Baggerfahrer arbeiten hinter Panzerglas. Es besteht Explosionsgefahr.
Foto: Michael Billig

Seit sechs Jahren hat die Gemeinde ein neues Wahrzeichen, eines, dessen Dach schon von der Autobahn aus zu sehen ist. Riesige weiße Streben durchschneiden den Himmel. Bogenförmig überspannen sie eine Fläche, die so groß ist wie fünf Fußballfelder. An den Trägern hängen Stahlseile, an den Stahlseilen wiederum die Decke einer flachen Halle. Darunter wird die Sondermülldeponie Kölliken zurückgebaut – ein weltweit in dieser Dimension einzigartiges Projekt.

Eine schmale Straße trennt das abgesperrte Deponiegelände von einer Wohnsiedlung. In der Siedlung steht das Haus von Alice Erismann. Die 80-Jährige lebt gern hier. „Wir haben den ganzen Tag Sonne“, schwärmt sie. Dass der Blick aus ihrem Wintergarten auf die gebogenen Stahlträger geht, stört die alte Dame nicht sonderlich. Von dem, was unter dem Hallendach passiert, bekomme sie nichts mit, sagt sie. Da habe es schon ganz andere Zeiten gegeben.

Als Alice Erismann vierzig Jahre jünger war als heute, gab es unterhalb ihres Hauses noch eine Tongrube mit angeschlossener Ziegelbrennerei. Mitte der 1970er Jahre war aus der Erde nichts mehr herauszuholen, der Abbau wurde eingestellt und die Grube zur Müllhalde umfunktioniert. Gar so schlimm werde es schon nicht kommen, dachte Erismann damals, und wie sie dachten die meisten Menschen im Dorf. Ihr Irrtum währte nicht lange. Bald begriffen sie, was es bedeutete, direkt vor ihrer Haustür die größte Sondermülldeponie des Landes zu haben.
Als die Deponie im Mai 1978 ihre Arbeit aufnahm, wurden Lärm, Staub und Gestank zum Dauerzustand in Kölliken. Die Lkw kamen aus der Schweiz, aus Italien, Bulgarien – aus halb Europa, auch aus der Bundesrepublik. „Lastwagen sind von einer Verbrennungsanlage gekommen und haben Schlamm herunter gekippt. Das hat noch gedampft und gestunken“, berichtet Erismann. Anfangs wurde der Müll sorglos unter freiem Himmel gelagert. Anwohner klagten über Schwindel, Kopfschmerzen und Übelkeit.

Kontaminiertes Wasser aus der Deponie
Eines Tages breitete sich im ganzen Ort ein unerträglicher Geruch aus. Durch die Kanalisation kroch er in die Häuser. Im Dorfbach starben die Fische. Untersuchungen ergaben, dass kontaminiertes Wasser aus der Deponie austrat. Schadstoffe bewegten sich auf die Kölliker Rinne zu, den Grundwasserstrom, der rund 200.000 Menschen mit Trinkwasser versorgt. Eine Katastrophe bahnte sich an.
Schnelle Gegenmaßnahmen konnten die Gefahr bannen, der giftige Müllberg wurde besser abgedichtet, die Deponie aber wurde im Jahr 1985 geschlossen. Unter der nun begrünten Oberfläche moderte es indes weiter vor sich hin. Bis der Kanton Aarau, der einst das Abkippen des Sondermülls genehmigt hatte, sich zu seiner Verantwortung bekannte und begann, die Umweltsünde aus der Welt zu schaffen. Gemeinsam mit den anderen Deponiebetreibern – der Stadt und dem Kanton Zürich sowie der Basler chemischen Industrie – machte man sich 2007 an den Rückbau und errichtete dazu als erstes die Halle. Mittlerweile ist die Hälfte des Mülls weg, abgetragen, nach Stoffgruppen sortiert, mittels neuer technischer Verfahren in der Schweiz und in den Niederlanden entsorgt, und es steht zu hoffen: Diesmal fachgerecht.

Von der Autobahn aus sieht es aus, als schmiege sich die Halle an den Hang an. Unter ihrem Dach fressen sich die Bagger in den Berg hinein. Draußen können die Menschen endlich wieder frische Luft atmen. Drinnen ist die Atmosphäre so giftig, dass Menschen – wenn überhaupt – nur in Schutzanzügen herumlaufen dürfen. Maschinenführer arbeiten hinter Panzerglas. Es besteht akute Brand- und Explosionsgefahr.

Neue Pläne, neue Gefahren
475.000 Tonnen Sondermüll lagern in Kölliken. Schaufel für Schaufel holen die Bagger die Altlasten wieder hervor. Abfälle der Chemie- und Pharmaindustrie kommen zum Vorschein. Gepanzerte Kipper nehmen den Müll auf und transportieren ihn weiter in den Lagerbereich, wo die giftige Fracht in Containern landet. „Die Container werden luftdicht verschlossen. Sie sind für sämtliche Gefahrgutklassen zugelassen“, erläutert Benjamin Müller, Chef der Deponie. Gleise führen ins Freie, der stark belastete Abfall verlässt Kölliken mit dem Zug.
Das Pionierprojekt hat seinen Preis. Die Kosten sind von ursprünglich kalkulierten 445 Millionen auf 770 Millionen Schweizer Franken gestiegen, das sind umgerechnet rund 640 Millionen Euro. Finanziell lohne es sich dennoch, beteuert der Aargauer Regierungsrat Peter C. Beyeler in einem Zeitungsinterview. Die andernfalls nötigen Sicherheitsvorkehrungen und eine Überwachung der Deponie über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte hinweg seien teurer als der Rückbau.

2016 soll das Projekt abgeschlossen sein. Auch die Halle mit ihrer spektakulären Dachkonstruktion wird dann abgebaut. Anwohnerin Alice Erismann ist froh, dass die Giftgrube vor ihrer Haustür bald Geschichte ist. Ob Kölliken von den Schweizern dann wieder nur mit Strohdächern in Verbindung gebracht werden wird, ist aber noch nicht ausgemacht. Die Bundesregierung in Bern sucht gegenwärtig eine Lagerstätte für den Atommüll des Landes, und die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle – abgekürzt Nagra – hat auch Kölliken als möglichen Standort im Blick. Nicht die alte Tongrube zwar, und beschlossen ist noch gar nichts. Doch vor allem den älteren Leuten in Kölliken schwant nichts Gutes.

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 20.02.2013 von Michael Billig

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