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Das Müll-Karussell

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Immer mehr Abfälle treiben in den Ozeanen. Der Müllstrudel zwischen Kalifornien und Hawaii ist auf die Größe Mitteleuropas angewachsen. Das Treibgut bedroht viele Meereslebewesen.

Jahrelang hat der Biologe Richard Thompson, 44, die kulinarischen Vorlieben von Meeresschnecken an der englischen Küste erforscht. Doch die Fachwelt wurde erst auf ihn aufmerksam, als er sich einem Stoff zuwandte, der im Meer gar nicht vorkommen sollte: Plastik.

Thompson ist ein hochgewachsener Mann mit Glatze, hellblauen Augen und britischem Teint. Mit Rucksack und Gummistiefeln stapft er nahe der Mündung am Ufer des Flusses Plym entlang, dem die angrenzende Hafenstadt Plymouth ihren Namen verdankt. Es ist ein kalter, grauer Nachmittag, das Wasser hat sich fast 200 Meter vom Ufer zurückgezogen und legt ein sandiges Watt frei, übersät mit Seetang, Kieselsteinen und Muscheln – aber auch mit Verpackungen, Wattestäbchen, PET-Flaschen, Bierdosen, zerfetzten Luftballons, Schaumstoff, Trinkhalmen und einer verlorenen Playmobil-Figur.

All das interessiert Thompson nicht. Er bückt sich und hebt eine Handvoll feuchten Sand auf. „Fällt Ihnen etwas auf?“ fragt er. In seiner Hand glitzern zwischen Sandkörnern und dunklem Seetang mindestens zwei Dutzend blaue, rote und grüne Zylinder, etwa zwei Millimeter klein. „Das sind Pellets“, erklärt der Wissenschaftler. „Sie dienen als Rohmaterial bei der Herstellung von Plastikobjekten.“

Kunststofffabriken aber gibt es in der Gegend um Plymouth nicht. Die Pellets müssen von weit her angespült worden sein. Thompson schätzt, dass der Sand an diesem Strand im Schnitt fünf bis zehn Prozent Plastik enthält.

Aber nicht nur dort: An praktisch jedem Strand dieser Welt dürfte das, was sich unter nackten Füßen so angenehm rau und natürlich anfühlt, zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus Kunststoff bestehen.

Weltweit werden jedes Jahr 225 Millionen Tonnen Plastik produziert. Aus Erdöl hergestellt, ist das leicht formbare Material ideal für den Hausgebrauch: robust, extrem haltbar und zudem billig – zu billig, als dass man sorgsam damit umgehen müsste: Die globale Recyclingrate liegt bei wenigen Prozent.

Unvorstellbare Mengen des Wegwerfprodukts landen stattdessen in den Ozeanen: Müll, der von Schiffen abgeworfen wird, Container, die unterwegs verlorengehen, Abfälle, die von Bächen und Flüssen mitgetragen oder an Küsten achtlos weggeschmissen werden. Die Meeresschutzorganisation Oceana schätzt, dass weltweit jede Stunde rund 675 Tonnen Müll direkt ins Meer geworfen werden, die Hälfte davon ist aus Plastik.

Im Nordostpazifik lässt sich das Phänomen besonders eindrucksvoll besichtigen: Zwischen Kalifornien und Hawaii hat sich ein rund drei Millionen Tonnen schwerer Plastikteppich gebildet, der etwa so groß ist wie Mitteleuropa. Kreisende Strömungen von Wind und Wasser sorgen dafür, dass der Müllstrom hier niemals versiegt.

Der weltgrößte Ozean wird klimatisch durch Passatwinde beeinflusst: Luftströmungen zwischen den Wendekreisen bewegen auch das Wasser. Ein gigantischer Wirbel dreht sich träge im Uhrzeigersinn; sein Zentrum liegt etwa 2000 Kilometer nordöstlich von Hawaii.

Die korrekte Bezeichnung für dieses entlegene Meeresgebiet lautet Nordpazifikwirbel, doch Ozeanografen haben einen anderen Namen dafür: großer pazifischer Müllstrudel. An der Oberfläche kommen hier auf ein Kilogramm Plankton mittlerweile sechs Kilogramm Plastik. Und in mehreren weiteren Wirbeln im Südpazifik, im Atlantik und im Indischen Ozean fahren ebenfalls Abfälle Karussell, wenngleich in etwas geringeren Mengen.

Für 29.000 bunte Entchen, Schildkröten, Frösche und Biber aus Plastik begann in einer Nacht im Januar 1992 eine Odyssee durch die Weltmeere. Im Pazifik, wo sich der 45. Breitengrad und die Datumsgrenze kreuzen, geriet ein Frachtschiff in einen Sturm und verlor einen Teil des Spielzeugs, das es von Hongkong in die USA bringen sollte. Bald trieben Strömungen am Rande des Müllstrudels den Plastikschwarm auseinander: Manche Tierchen wurden in Alaska an Land gespült, andere strandeten an den Küsten von Hawaii, Indonesien und Südamerika, ein Drittel schwamm gen Norden durch die Beringstraße in die Arktis, trieb im Packeis nach Osten und dann in den Atlantik. Elf Jahre später erreichten einige, inzwischen recht mitgenommen, ihr ursprüngliches Ziel: die USA.

Die verlorenen Plastiktierchen sind für Ozeanografen ein Glücksfall – sie helfen ihnen, die Strömungen in den Weltmeeren besser zu verstehen.

Doch allzu oft richtet Treibgut auch fatale Schäden an: Richard Thompson kann schauerliche Geschichten erzählen von Albatrossen und Möwen, die sich in Plastiknetzen verheddern, von Seeottern, die an Sixpack-Ringen ersticken, oder von Meeresschildkröten, die Einkaufstüten verschlingen, weil sie diese mit Quallen verwechseln.

Beeindruckt hat den Meeresforscher eine Studie an 600 toten Eissturmvögeln, die an die Küsten der Nordsee geschwemmt worden waren. Ein Team des niederländischen Forschungsinstituts Alterra obduzierte die Vögel und fand heraus, dass über 95 Prozent von ihnen unverdauliche Abfälle gefressen hatten, im Schnitt 44 Teilchen pro Tier. Zwar lasse sich nicht in jedem Fall feststellen, ob der Müll die Tiere direkt umgebracht habe, sagt Thompson, doch sicher sei: „Die Plastikteile erschweren die Verdauung, können zu Darmverschlüssen führen und Giftstoffe an den Körper abgeben.“

Dabei ist die sichtbare Verschmutzung im Meer womöglich nicht einmal das größte Problem. Verheerender noch wirkt der Unrat, wenn er langsam unsichtbar wird. „Kunststoffe werden im Wasser durch Sonneneinstrahlung und Wellenbewegungen allmählich kleiner und kleiner gemahlen, bis nur noch eine Art Pulver übrig ist“, erklärt Thompson.

Und was wird dann aus den winzigen Teilchen? Thompson lässt den Sand mitsamt Pellets aus seiner Hand rieseln und zuckt mit den Schultern. „Das wissen wir nicht. Plastik gibt es erst seit etwa 50 Jahren. Und bisher haben wir keine Anzeichen dafür, dass irgendwelche Mikroorganismen es abbauen können.“

Das feingemahlene Pulver ist Thompsons Sorge und sein Forschungsgegenstand. Sein Team an der Universität von Plymouth hat Sandproben von 18 Stränden an der britischen Küste und rund 25 weiteren Stränden auf der ganzen Welt auf verdächtige Partikel hin untersucht. Jede Probe muss dafür gefiltert und mit bloßem Auge inspiziert werden. Jedes einzelne Körnchen, das nicht aussieht wie ein gewöhnliches Sandkorn, analysieren die Forscher mit einem speziellen Gerät, einem Fourier-Transformations-Infrarot-Spektrometer. Das Absorptionsspektrum jedes Partikels wird mit einer Datenbank von bekannten Materialien verglichen. So können Bruchstücke bis zu einer minimalen Größe von 20 Mikrometern chemisch bestimmt werden.

Was aber bewirkt die wachsende Flut winziger Plastikkörner im Meer? Thompson, der Mann, der alles über die Fressgewohnheiten kleiner Strand- und Meerestiere weiß, hatte eine Befürchtung. Um sie zu überprüfen, sammelte er Wattwürmer, Sandflöhe und Entenmuscheln. Er steckte die Tiere in ein Aquarium und gab mundgerechte Plastikteilchen dazu.

Seine Vermutung bestätigte sich: „Alle drei Arten fraßen sofort Plastik.“ Die Tiere starben nicht während des Experiments, aber ein Großteil der Kunststoffteilchen blieb in ihren Körpern stecken. „Wir brauchen weitere Studien, um zu beurteilen, welche Folgen das für diese und andere kleine Meereslebewesen hat“, sagt Thompson. Wenn das Plastikpulver nur fein genug sei, könne selbst Zooplankton es verschlucken. „Dann steigt es in der Nahrungskette immer weiter auf und landet irgendwann in unseren Lebensmitteln.“

Dieses Szenario erscheint ihm umso bedrohlicher, seit er von einer Entdeckung des Geochemikers Hideshige Takada von der Universität in Tokio erfahren hat. Takada untersuchte Plastikbruchstücke aus dem Japanischen Meer und der Tokiobucht und fand heraus, dass sich an den Pellets auch giftige und krebsverursachende Chemikalien wie DDT und Polychlorierte Biphenyle anlagern. Die Konzentration einzelner Giftstoffe an der Oberfläche der Pellets war bis zu eine Million Mal höher als im umgebenden Wasser.

Thompson will nun herausfinden, ob diese Umweltgifte in den Gedärmen von Meereslebewesen freigesetzt werden können. In ersten Tests konnte sein Team zeigen, dass Plastikteilchen giftige Chemikalien absondern, wenn sie in eine Umgebung versetzt werden, die dem Verdauungstrakt von Wattwürmern gleicht. „Das ist alles, was wir momentan mit Sicherheit sagen können.“

Gibt es denn eine Lösung für das Problem? Selbst wenn die Menschheit morgen damit aufhörte, Plastik zu produzieren – die vielen Millionen Tonnen, die bislang in die Ozeane gelangt sind, werden noch Jahrtausende mit den Strömungen um die Welt treiben. „Das Zeug lässt sich ja nicht rausfiltern“, sagt Thompson.

Doch immerhin: Viele tausend Seemeilen von der englischen Küste entfernt geschehen Dinge, die Thompson zuversichtlich stimmen. So verkündete die australische Regierung vor kurzem, dass sie Plastiktüten verbieten will. Im pazifischen Zwergenstaat Palau müssen Reisende, die mit einer Tüte erwischt werden, einen Dollar Strafe zahlen. Noch rabiater gehen die Behörden auf Sansibar vor: Wer dort Plastiktüten einführt oder verteilt, zahlt bis zu 1.560 Euro.

Spiegel online vom 02.02.2008 von Samiha Shafy

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